Von den Phänomen einer geschlossenen Anstalt "Mäßigen wir uns in der Fülle der Ereignisse und vor allen Dingen in in der Schilderung derselben" ruft der Erzähler sich zu, als er gewahr wurde, daß seine Geschichte zu einer auf ihn einstürzenden Wand wird:

Anders, als in dem Buch "Horacker" von Willhelm Raabe ist der folgende Text nicht von der eigenen Einbildungskraft inspiriert. Die einstürzende Wand ist eine Tatsache. An einem konkreten Beispiel will ich ihr Vorhandensein nahebringen, ihre potentielle Energie als eine latente Erfahrung charakterisieren.
Sie bildet die Vorraussetzung für eine Ahnung, mit der man umgehen kann, bevor etwas passiert, weil schon etwas geschah.

Im vorigen Jahr entstand die Idee, auf einer bewachten, aber seit drei Jahren verlassenen Enklave der unglaublichen Präsenz eines Ortes mit künstlerischen Mitteln zu begegnen. Der Ort befindet sich in Krampnitz, umfaßt 119 Hektar und wurde von bis zu 30.000 Menschen bewohnt. Es ist ein Militärgelände dessen Geschichte vor über hundert Jahren begann. Erst Heereskavallerieschule, in den dreißer Jahren zur Panzertruppenschule umgebaut und nach 1945 als Garnison einer Artillerie-Division der soviejetischen Streitkräfte vernutzt.

Es war die erste Kaserne, die im Rahmen des Abzuges der "Russen" übergeben worden ist. Das war vor drei Jahren. Seit dieser Zeit finden natürliche Prozesse statt, die man als Rückeroberung durch die Natur bezeichnen kann. Die größtenteils von den deutschen Militärs errichteten Zweckbauten sind übersichtlich angeordnet. Es gibt klare Achsen, eine einheitliche Höhe des Dachfirstes, eine strikte Trennung des Wohn- vom eigenlich militärischen Bereich. Die klare infrastrukturelle Gliederung wird auch nicht von den sporadisch gebauten und als Flickwerk zu bezeichnenden Ergänzungen, die während der sowjetischen Besatzungszeit vorgenommen worden sind, aufgehoben.

Das seit drei Jahren anhaltende Zwischenstadium hat erheblich sichbare Folgen. Die Neuaufteilung in Biotope für Fauna und Flora bricht sich unaufhaltsam Bahnen. Die Feuchtigkeit reisst den Beton auf. Er verwittert. Das Holz wird morsch. Schimmel besetzt den noch zu erkennenden Kindergarten. Wegwarte und Schafgabe füllen die auf den betonierten Strassen vorhandenen Risse. Die Ölfarbe läst sich in grossen Fladen von den Decken der Panzerhallen. In den mit Regenwasser gef¨llten Ölabscheidern schweben Algen, in denen sich Frösche vermehren. Im einstigen Militärgefängnis ist Kot von einem Marder zu entdecken.
Und der biologische Kreislauf wird von einer Nahrungskette untersetzt, von der der Mensch ausgeschlossen ist. Nahrung finden Haden und Füchse, Mäuse und Habichte. Die von den Bäumen fallenden Weizenäpfel werden von Wildschweinen gefressen, wie von Maden und Wespen.

Die Funktionslosigkeit dieses Topos erhält in Form der Aneignung dieser Lebewesen und Pflanzen ihren Sinn. Die banal anmutende Schilderung verdeckt vielleicht den enormen Bruch zwischen der wahrnehmbaren Sinnlosigkeit menschlichen Tuns. Aufgrund der Abwesenheit jeglicher menschlicher Handlung und der sich ausbreitenden Fülle in den einzelnen Biotopen. In Krampnitz verliert jeder Spätaufklärer seine Motivation. In Krampnitz bewegt man sich wie in einem Museum menschlichen Lebens, dessen ummenschlichste Ausprägung ?hier? bewertet werden kann. Die verblüffende Ähnlichkeit der architektonischen Gestaltung von Kasernen, Konzentrationslager, Krankenhäuser und Gefängnissen haben Philosophen wie Lacan und Foucault untersucht.

Gemeinsam mit 18 Künstlerinnen und Künstlern wurden im August Konzepte verwirklicht, die sich auf den unterschiedlich wahrgenommenen Zustand des ehemaligen Kasernengeländes beziehen. Die Bedingungen, die von allen beteiligten akzeptiert wurden, waren Bestandteil der Einladung:
Jede künstlerische Arbeit ist tempoär.

Die unmittelbare öffentliche Wahrnehmung wird verweigert. Alle realisierten Arbeiten sind dokumentiert (Fotografie/Video). Das gesamte Dokumentationsmaterial wird bis Ende M„rz '95 in nicht-dokumentarischer Absicht geschnitten. Das Ergebnis wird ein eigenständiger Film sein.
Als Partner wird noch nach einem interessierten Fernsehsender gesucht.

Im gesamten Monat August waren die künstlerischen Projekte, die in Krampnitz verwirklicht wurden im weltweit grössten Computernetzwerk - dem Internet - präsent.

Von der Berliner Gruppe "Handshake" wurde die selbstgewählte Isolation der Beteiligten medial für eine interessierte Öffentlichkeit überbrückt.

Eingeladen waren neben den bereits Genannten Roman Signer, Boris Nieslony, Peter Farkas, Ro.Ka.Wi., Verena Kraft, Kurt Petz, Danny Devos, Monika Günther, Jaques van Poppel, Stefan Schneider, Evgenij Jufit, Jörg Rothamel, Yana Milev und Alexander Mouton.

Drei Präsentationsräume in Potsdam, Galerie im Staudenhof, Kunstfabrik und die Galerie Gutenbergstrasse 95 stehen den Künstlerinnen und Künstlern vom 7.10. - 18.12.1994 zur Verfügung.